Sonntag, 25. August 2013

Wahlprogramme der Parteien sind unverständlich

Konsequenz für Wahlkämpfer:
Dass einfache, gesprochene Wort und der direkte Dialog sind durch nichts zu ersetzen

Montage: Die Welt
Die Welt veröffentlicht heute eine Analyse des Sprachgebrauchs der deutschen Parteien im Bundestagswahlkampf [Bitte hier klicken]

Die Programme der Parteien sind nur schwer zu verstehen, zeigt eine wissenschaftliche Studie. Vor allem bei Wirtschaftsthemen strotzen sie vor Wortungetümen und Schachtelsätzen. Das hat Methode.

Von Olaf Gersemann

CDU/CSU – Keine Partei verweist so oft auf "Deutschland" und das "Land" wie die Union – laut Wordle zusammengenommen 369 Mal auf 128 Seiten. Anders als bei SPD, Grünen und Linken schafft es "Euro" bei CDU/CSU – wie auch bei der FDP – nicht in die Top 25. Auch "Frauen" ist nicht dabei – dafür aber, anders als zum Beispiel bei den Sozialdemokraten, "Kinder" und "Familien".

Lieblingswörter der LINKEN
„Gemeinsam erfolgreich", "Mehr für Familien", "Starke Wirtschaft": An Schlichtheit sind die Slogans auf den aktuellen Wahlplakaten der CDU kaum zu überbieten. Dafür aber hat es das Wahlprogramm in sich, das die Union für die Bundestagswahl am 22. Septemberaufgeschrieben hat. Auf 128 Seiten tummeln sich Fremdwörter, Fachbegriffe, Anglizismen. Zu "Smart Homes" haben CDU/CSU ebenso etwas zu sagen wie zur "Sharing Economy". Manche Sätze sind allenfalls bei mehrmaligem Lesen verständlich, in der Spitze sind sie mehr als 40 Wörter lang.

Besonders gern reiht die Union in ihrem Wahlprogramm Substantive aneinander. So entstehen Wortmonster wie "Kriegsfolgenschicksal". Nach Mitgefühl klingt das nicht wirklich. Und der Begriff ist auch nicht im Duden aufzufinden – genauso wenig wie anderer Unionssprech, beispielsweise "Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung", "Infrastrukturungleichgewichte" oder "Konfliktlösungsmöglichkeiten".

Immerhin jedoch ahnt man da noch, was gemeint ist. Aber was, bitte, sind die "entwicklungsbeeinträchtigenden" Angebote im Internet, von denen die Union schreibt? Da muss man schon raten. Und der Verdacht liegt nahe, dass genau dies beabsichtigt ist.




CDU/CSU noch mit dem verständlichsten Programm


Das wirklich Verstörende aber ist: CDU/CSU ragen heraus – und zwar als positives Beispiel. Eine noch unveröffentlichte Studie der Universität Hohenheim attestiert der Union nämlich, das verständlichste Programm vorgelegt zu haben, oder genauer: das am wenigsten unverständliche. Das Institut für Kommunikationswissenschaft der Uni hat gemeinsam mit der Ulmer Beratungsfirma H&H Communication Lab die Sprache untersucht, die sich in den Programmen der sechs wichtigsten Parteien zur Bundestagswahl 2013 findet.

Zugrunde gelegt hat sie dabei den bereits zuvor entwickelten "Hohenheimer Verständlichkeitsindex", der die Länge von Wörtern und Sätzen und eine Reihe von weiteren Kriterien berücksichtigt. Die Ergebnisse der Studie, die der "Welt am Sonntag" vorliegt, fasst Lehrstuhlinhaber Professor Frank Brettschneider nüchtern zusammen: "Die Parteien verschenken große Kommunikationschancen. Kein einziges Programm ist richtig verständlich."

Mit einem Wert von 9,9 auf einer Skala von 0 (sehr unverständlich) bis 20 (sehr verständlich) liegt die Union der Studie zufolge scheinbar gar nicht so weit hinter Wirtschaftsartikeln in überregionalen Tageszeitungen wie der "Welt". Die nämlich kommen erfahrungsgemäß im Durchschnitt auf Werte von elf bis zwölf. Allerdings können die Verfasser von Wahlprogrammen, anders als die Macher von Tageszeitungen, nicht darauf verweisen, sich vor allem an Gewohnheitsleser zu wenden.

Die Linkspartei hat sich verbessertUnd die Wahlprogramme der anderen größeren Parteien fallen ohnehin noch hinter das der Union zurück. "Insgesamt hat sich die Verständlichkeit der Programme seit 2009 verschlechtert", sagt Brettschneider. Bei der FDP, bei den Grünen und ganz besonders bei der SPD ist der Kauderwelsch auf dem Vormarsch, die Indexwerte dieser Parteien sind allesamt gesunken.

Die Linke wiederum ist, wie die Union, gegenüber der vorigen Bundestagswahl etwas verständlicher geworden – allerdings von sehr niedrigem Niveau aus. Mindestens ein Satz im Linken-Programm hat mehr als 70 Wörter. Was irgendwie auch beruhigend ist: Eine Partei, die wirklich Revolution will, weiß sich kürzer zu fassen.

Jedenfalls ist die Lektüre der Wahlprogramme eine Tortur. Wenn etwas viel Platz braucht, dann ist wie selbstverständlich von "Flächeninanspruchnahme" (FDP) die Rede. Und es gibt auch den "Hochspannungsgleichstromübertrag" (SPD), das "Rebflächenmanagementsystem" (FDP) oder die "Aufstandsbekämpfungsstrategien" (Die Linke).

Vor allem bei den Grünen kommt hinzu, dass der Kampf um die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch mit sprachlichen Mitteln ausgetragen wird. Darüber, dass die deutsche Energiewende mithilfe von "BürgerInnenenergie" in "BürgerInnenhand" liegen soll, mag man noch unfallfrei hinweglesen – aber spätestens bei "BürgerInnengemeinschaftsanlagen" wird es dann beschwerlich.

Piratenpartei mit unverständlichstem Wahlprogramm

Die AfD haben die Hohenheimer nicht untersucht – deren Programm umfasst gerade einmal vier Seiten und ist daher gegenüber den anderen Machwerken, die alle mit nicht unter 100 Seiten auskommen, nicht satisfaktionsfähig. Dafür ist ein anderer Neuling dabei: die Piratenpartei. Zum Einstand gibt es für die Piraten von den Hohenheimern den Indexwert von 5,8.

Ein derart schlechtes Niveau hat seit 1994 keine Partei mehr erreicht. Die Verständlichkeit des Piratenprogramms ist nicht sehr viel höher als die einer durchschnittlichen Doktorarbeit im Fach Politikwissenschaft (4,3). Wer nichts ahnend im Piratenprogramm blättert, wird malträtiert mit Begriffen wie "Datenverarbeitungseinwilligungsklauseln", "Mindestbelastungsgrenzwerten" und "Privacy-by-Design".

Nun können die Parteien argumentieren, dass sie sich doch neuerdings redlich Mühe geben: Das Programm der Linken etwa ist sogar auf Kurdisch oder Russisch erhältlich. Und alle sechs untersuchten Parteien haben auch Audio-Fassungen ihrer Programme im Angebot und solche in "leichter Sprache". Allein: Die Grundlage etwaiger Koalitionsverhandlungen sind die Ursprungsfassungen: "Nur das Original-Wahlprogramm ist wirklich gültig", heißt es warnend auf der Internetseite cdu.de.

Programm in Leichter Sprache

Was wohl auch besser so ist – das jedenfalls legt ein Blick in das "Regierungsprogramm in Leichter Sprache" der Union nahe. Diese Version ist acht Seiten lang und erhält vom Brettschneider-Team einen Indexwert von 20, die Bestnote also.

Das aber liest sich dann, bindestrichgesättigt, so: "Der Mindest-Lohn muss fest-gelegt werden." Oder so: "Die Preise in Europa sollen gleich bleiben. Zum Beispiel für Brot. Oder für Benzin. Und nicht immer anders werden. Dann sind die Preise sicher. Das schwierige Wort für sicher ist stabil." Spätestens an dieser Stelle dürfte der geneigte Leser etwas instabil werden.

Ohnehin ist es so, dass die Parteien zwar die Leidensbereitschaft der Leser überschätzen – zugleich aber das Interesse an politischen Inhalten unterschätzen. "Die Vorstellung, Wahlprogramme müssten kurz und knapp sein, damit sie überhaupt gelesen werden, ist falsch", sagt Kommunikationsexperte Brettschneider. Viele Wähler, so der Forscher, lesen zumindest einzelne Passagen: "Schon deshalb sollten auch die Langfassungen verständlich sein."

Außenpolitik nimmt breiten Raum ein

Sind sie nur eben nicht. Besonders mangelhaft ist die Verständlichkeit ausgerechnet im Bereich Außenpolitik, zu der die Hohenheimer Forscher auch die Euro- und Europapolitik zählen: "Das ist der Bereich, den die Parteien besonders gut erklären sollten – weil er besonders kompliziert ist und besonders wichtig", sagt Frank Brettschneider.

Die Außenpolitik einschließlich Euro- und Europapolitik ist denn auch bei der Union, bei FDP und Grünen das Thema, das am meisten Platz einnimmt. Bei der SPD und der Linkspartei kommt die Außenpolitik auf Platz zwei hinter der Sozialpolitik, nur bei den Piraten rangiert sie erst an dritter Stelle, hinter Justiz- und Rechts- sowie Sozialpolitik. Die Union tut sich in ihrem Programm bei diesem Thema sprachlich so schwer wie bei praktisch keinem anderen. Doch mit einem Indexwert von 8,6 liegt sie immer noch vor der SPD (7,1) oder den Grünen (6,5).

Können es die Parteien nicht besser? Oder wollen sie nicht? Die richtige Antwort ist wohl: ein bisschen von beidem. Einleitung und Schlussteil der Wahlprogramme werden gewöhnlich von Kommunikationsprofis geschrieben. Folgerichtig erzielt etwa die Einleitung der FDP im Hohenheimer Ranking einen Wert von 19,1. Bei den Liberalen und auch SPD und Grünen ist die Einleitung noch einfacher zu verstehen als Politikartikel in "Bild", die im Durchschnitt auf einen Indexwert von 16,8 kommen.

Wichtige Kapitel schreiben Experten

Die eigentlichen inhaltlichen Kapitel dagegen werden von Leuten geschrieben, die Experten sind für das jeweilige Themenfeld – und hier schlägt, wie Frank Brettschneider sich ausdrückt, "der Fluch des Wissens" voll zu.

Die Fachleute der Freidemokraten zum Beispiel haben offenkundig ganz vergessen, dass die "Eingriffsausgleichsregelung" zwar unter Landbesitzern und Naturschützern ein geläufiger Begriff ist. Aber eben nur dort. Für alle anderen sollte der Anspruch, von solchen dreifachen Substantiven mit zweifachem Genitiv verschont zu werden, mindestens grundrechtsähnlichen Status haben.

Doch den Parteien einfach nur Unfähigkeit zu attestieren, wäre zu viel des Großmuts. Man darf davon ausgehen: Nicht nur zu Wahrheit und Aufrichtigkeit haben die Parteien ein bestenfalls zwiespältiges Verhältnis – sondern auch zur Klarheit. "Da ist auch taktische Unverständlichkeit im Spiel", sagt Studienautor Brettschneider. "Die Parteien wollen manchmal gar nicht richtig verstanden werden: Die Wähler sollen nicht merken, was die Parteien bei einzelnen Themenfeldern im Schilde führen."

Völlig neu ist dieses Phänomen keineswegs. Gerade wenn es richtig wichtig wird, greifen Politiker zuweilen gezielt zu verquastem Deutsch. Frank Brettschneider fallen als Erstes die rot-grünen Arbeitsmarktreformen ein: "Man muss sich nur die Rede anhören, mit der Gerhard Schröder 2003 im Bundestag die Agenda 2010 angekündigt hat. Lange Sätze, viele Verschachtelungen, viele Fachbegriffe – als wollte der damalige Kanzler das Signal geben: ,Bitte nicht in der Tagesschau senden!'"

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